Exil und Utopie — drei Gedankenströme

I — Ich muss dich lassen

Seien wir klar:

Heute über Exil zu reden

über Vertreibung und Fremdsein und die rettende Fata Morgana

der Utopie,

heute über Exil reden

und dabei nicht über heute zu reden

ist unanständig und feige.

Ja, dies ist ein zeitloses Leid, ein Schicksal, dass Menschen

schon immer betroffen hat,

lange bevor die Juden in ihre babylonische Verbannung gegangen

sind,

lange bevor die klagenden Lieder komponiert wurden,

deren langgezogene Melodien sich über durchwanderte Landschaften

und Ängste spannen, ineinander verwobene Pfade aus der Einsamkeit.

Aber dieses zeitlose Leid wird gerade heute wieder neu Menschen

zugefügt

und wir, die schweigende Mehrheit, sehen ohnmächtig zu denken uns,

dass man da doch etwas tun sollte

und profitieren ein bisschen mit

von den Waffenverkäufen an irgendwelche Potentaten oder Terroristen,

von den Stacheldrahtzäunen und gesunkenen Gummibooten.

Schweigend und verunsichert, man weiß ja nicht mehr, wem man noch

glauben soll.

Heute sind mehr Menschen im Exil, als nach dem 2. Weltkrieg,

mehr als zu jeder anderen Zeit.

Heute ist die Vertreibung dramatischer geworden,

heute sind die Utopien so weit ausser Reichweite gerückt,

dass sich Menschen nicht einmal mehr trauen, nach ihnen zu

greifen.

Jeder Akkord der Trauer, die über Jahrhunderte noch klingt,

hat einen Widerhall in Gaza, im Sudan, in Myanmar und im Iran,

in einsamen Schritten durch fremde Städte

und die Echos von niemals endenden, fremden Straßenschluchten ohne

Eingänge.

Dissonanzen zerreissen den Geist von Menschen,

die ihr Leben in der Fremde verbracht haben,

weil sie an den falschen Gott glaubten, die falsche Farbe hatten,

die falschen Ideen oder die falsche Familie

oder einfach weil sie Hunger hatten

und kein Land zum bebauen, weil es ihnen gestohlen wurde, oder

weil sie weggejagt wurden,

oder weil es jetzt unter Wasser steht,

oder weil es nicht mehr regnet wie früher,

oder weil mein eine Mine in den Berg gesprengt hat, wo ihr Garten

war.

Im Exil leben heißt vergessen werden ohne zu vergessen.

Sie erinnern sich nicht mehr an dich zuhause,

oder nur noch an ein fernes, jüngeres Selbst.

Sie reden jetzt anders dort.

Du verstehst den Akzent nicht mehr,

wirst hinter deinem Rücken von den jüngeren Leuten belächelt,

die am Puls der Zeit leben.

Im verlorenen Paradies.

Vielleicht sind überhaupt ganz andere Menschen dort, oder ein

anderes Land.

Staaten kommen und Staaten gehen.

Du aber hängst fest an diesem Land, diesem bestimmten, diesem

guten Land,

das einmal war oder vielleicht auch niemals wirklich gewesen ist,

das jetzt nur noch in der Erinnerung versprengter Geister lebt,

in den Supermärkten am Stadtrand

zu denen die Leute von weither kommen

für den Geschmack der Selbstverständlichkeit,

in denen das Gemüse fremd und nackt in der Exilsonne leuchtet,

Geschäfte mit Früchten in skandalösen Farben, mit dem besonderen

getrockneten Fisch und den klebrigen Bonbons mit dem

blauglänzenden Papier, das nach Kindheit knistert.

Du lebst in diesem Land, nur dein Körper ist zwischenzeitlich

woanders und muss dort Geld verdienen und irgendwie überleben, und

einfach nicht umgebracht werden

obwohl nichts dort vernünftig und natürlich scheint und niemand

mehr versteht, als die nackten Worte.

Eine wirkliche Heimkehr kann es nicht geben.

Es gibt keine Heimkehr ins Gaza von vor 2022, oder vor 1948, oder

in den Iran vor den Ayatollahs, nach Ruanda vor dem Völkermord,

oder in eine andere Vergangenheit,

sogar die eigene.

Die Heimat lebt nur noch in den Geschichten versprengter Geister

und ergrauter Propagandisten,

und in den verschlungenen Korridoren der Erinnerung,

aufbewahrt wie Trockenblumen zwischen vergilbten Buchseiten.

Die Heimat ist längst zum Phantomschmerz geworden.

Für die meisten aber, für Millionen,

ist das Exil kein vages Leid sondern eine tägliche Hölle

in Flüchtlingslagern

Wellblech und Betonziegel, Erinnerungen an Verlorenes,

ausgebombt und festgesetzt, ausgeraubt und vergewaltigt,

ohne einen Staat, ohne Schutz irgendwelcher Gesetze, ohne Familie

und ohne Worte.

Der Wiederaufbau auf den Trümmern des früheren Lebens

ist doppelt so hart erkämpft,

keine Kompetenz, keine Qualifikation, kein kostbares Wissen von

zuhause

zählt in der neuen Welt der Sprachlosigkeit.

Dichter aller Sprachen haben gefunden,

dass ihre von treuen Leserinnen tief geliebte Sprache in der

Fremde

einfach verhallt,

dass die alte Sprache immer weiter abblättert von der Wirklichkeit

und die neue Sprache der harten Notwendigkeit

ihre Nuancen noch nicht preisgegeben hat

und so verstummen Dichterinnen und Sänger

und hängen ihre Harfen an die Bäume.

 

Exil und Utopie — drei Gedankenströme

I — Ich muss dich lassen

Seien wir klar: Heute über Exil zu reden über Vertreibung und Fremdsein und die rettende Fata Morgana der Utopie, heute über Exil reden und dabei nicht über heute zu reden ist unanständig und feige.

Ja, dies ist ein zeitloses Leid, ein Schicksal, dass Menschen schon immer betroffen hat, lange bevor die Juden in ihre babylonische Verbannung gegangen sind, lange bevor die klagenden Lieder komponiert wurden, deren langgezogene Melodien sich über durchwanderte Landschaften und Ängste spannen, ineinander verwobene Pfade aus der Einsamkeit.

Aber dieses zeitlose Leid wird gerade heute wieder neu Menschen zugefügt und wir, die schweigende Mehrheit, sehen ohnmächtig zu denken uns, dass man da doch etwas tun sollte und profitieren ein bisschen mit von den Waffenverkäufen an irgendwelche Potentaten oder Terroristen, von den Stacheldrahtzäunen und gesunkenen Gummibooten. Schweigend und verunsichert, man weiß ja nicht mehr, wem man noch glauben soll.

Heute sind mehr Menschen im Exil, als nach dem 2. Weltkrieg, mehr als zu jeder anderen Zeit. Heute ist die Vertreibung dramatischer geworden, heute sind die Utopien so weit ausser Reichweite gerückt, dass sich Menschen nicht einmal mehr trauen, nach ihnen zu greifen.

Jeder Akkord der Trauer, die über Jahrhunderte noch klingt, hat einen Widerhall in Gaza, im Sudan, in Myanmar und im Iran, in einsamen Schritten durch fremde Städte und die Echos von niemals endenden, fremden Straßenschluchten ohne Eingänge. Dissonanzen zerreissen den Geist von Menschen, die ihr Leben in der Fremde verbracht haben, weil sie an den falschen Gott glaubten, die falsche Farbe hatten, die falschen Ideen oder die falsche Familie oder einfach weil sie Hunger hatten und kein Land zum bebauen, weil es ihnen gestohlen wurde, oder weil sie weggejagt wurden, oder weil es jetzt unter Wasser steht, oder weil es nicht mehr regnet wie früher, oder weil mein eine Mine in den Berg gesprengt hat, wo ihr Garten war.

Im Exil leben heißt vergessen werden ohne zu vergessen. Sie erinnern sich nicht mehr an dich zuhause, oder nur noch an ein fernes, jüngeres Selbst. Sie reden jetzt anders dort. Du verstehst den Akzent nicht mehr, wirst hinter deinem Rücken von den jüngeren Leuten belächelt, die am Puls der Zeit leben. Im verlorenen Paradies. Vielleicht sind überhaupt ganz andere Menschen dort, oder ein anderes Land. Staaten kommen und Staaten gehen. Du aber hängst fest an diesem Land, diesem bestimmten, diesem guten Land, das einmal war oder vielleicht auch niemals wirklich gewesen ist, das jetzt nur noch in der Erinnerung versprengter Geister lebt, in den Supermärkten am Stadtrand zu denen die Leute von weither kommen für den Geschmack der Selbstverständlichkeit, in denen das Gemüse fremd und nackt in der Exilsonne leuchtet, Geschäfte mit Früchten in skandalösen Farben, mit dem besonderen getrockneten Fisch und den klebrigen Bonbons mit dem blauglänzenden Papier, das nach Kindheit knistert. Du lebst in diesem Land, nur dein Körper ist zwischenzeitlich woanders und muss dort Geld verdienen und irgendwie überleben, und einfach nicht umgebracht werden obwohl nichts dort vernünftig und natürlich scheint und niemand mehr versteht, als die nackten Worte.

Eine wirkliche Heimkehr kann es nicht geben. Es gibt keine Heimkehr ins Gaza von vor 2022, oder vor 1948, oder in den Iran vor den Ayatollahs, nach Ruanda vor dem Völkermord, oder in eine andere Vergangenheit, sogar die eigene. Die Heimat lebt nur noch in den Geschichten versprengter Geister und ergrauter Propagandisten, und in den verschlungenen Korridoren der Erinnerung, aufbewahrt wie Trockenblumen zwischen vergilbten Buchseiten. Die Heimat ist längst zum Phantomschmerz geworden.

Für die meisten aber, für Millionen, ist das Exil kein vages Leid sondern eine tägliche Hölle in Flüchtlingslagern Wellblech und Betonziegel, Erinnerungen an Verlorenes, ausgebombt und festgesetzt, ausgeraubt und vergewaltigt, ohne einen Staat, ohne Schutz irgendwelcher Gesetze, ohne Familie und ohne Worte. Der Wiederaufbau auf den Trümmern des früheren Lebens ist doppelt so hart erkämpft, keine Kompetenz, keine Qualifikation, kein kostbares Wissen von zuhause zählt in der neuen Welt der Sprachlosigkeit.

Dichter aller Sprachen haben gefunden, dass ihre von treuen Leserinnen tief geliebte Sprache in der Fremde einfach verhallt, dass die alte Sprache immer weiter abblättert von der Wirklichkeit und die neue Sprache der harten Notwendigkeit ihre Nuancen noch nicht preisgegeben hat und so verstummen Dichterinnen und Sänger und hängen ihre Harfen an die Bäume.